Historische Schwälmer Weißstickerei

Vor einiger Zeit durfte ich eine ganz besondere Tischdecke betrachten. Sie ist zusammengesetzt aus mehreren Teilen. Allem Anschein nach entstammen die einzelnen Partien unterschiedlichen Stickereien. Nur aufwändig bestickte Elemente wurden ausgeschnitten und zu einem neuen Stück zusammengefügt.

Die größten Teile entstammen wohl sehr alten Paradekissen – die Borten-Breite entspricht der von Paradekissen und die Borte ist in sehr ähnlicher Form zweimal vorhanden; allerdings wurden sie wohl von unterschiedlich versierten Stickerinnen gefertigt.


Zwischen die breiten Borten wurden schmalere Borten


und aufwändig gearbeitete Stopfhohlsäume


mit unterschiedlichen Mustern


und in unterschiedlichen Breiten gesetzt.


Auch wenn die Stücke nicht mehr im Originalzustand sind, so kann man doch viele Einzelheiten der damaligen Stickerei daraus ersehen und interessante Entdeckungen machen.


Besonders ins Auge fallend sind die riesigen Tulpenmotive (Bild oben: Grundstich, Marburger Grundstich und treppenartig gestickter Rosenstich im Grundstichgitter),


mit ähnlichen Mustern,


aber in unterschiedlicher Perfektion, gestaltet.

Die übrigen, teilweise auch sehr großen Motive, erhalten weniger aufwändige Musterungen.


Ungewöhnlich sind die vielen eckigen Formen, die in unterschiedlichen Größen gestaltet wurden.


Zur Füllung der Flächen wurden ausschließlich lichte Muster verwendet.


Viele Motive wurden mit schrägen Wimpernstichen umrandet. Als weitere Umrandungsstiche finden sich Messerspitzen, 2 kurz-2 lang und


Schnürlochbögen. Knötchenstiche finden sich nur in Form von Spiralen und Schlängchen.


Stiele wurden mit Kettenstichen und mit umgekehrtem Mückenstich gestaltet; kleine Blättchen wurden in Plattstich gestickt.


Plattstichmotive in geometrischen Formen und kleine Schnürlocher füllen die Zwischenräume.


Es ist auffällig, dass der Fadenauszug in den Flächen nicht bis zum Rand der Motive vorgenommen wurde. Die Schnittkanten wurden erst nachträglich mit überwendlichen Stichen gesichert.


Höchst interessant ist auch die Musterung des Herzmotivs (Bild oben). Es handelt sich um ein lichtes Muster ohne Grundstichgitter. Darin wurden je vier – wohl nur teilweise gearbeitete – Rosenstiche zum Quadrat gesetzt und schachbrettartig über die Fläche verteilt. In die Zwischenräume wurde je ein Kästchenstich gestickt. Dieses Muster habe ich ausprobiert – die Ergebnisse werde ich in einem der nächsten Beiträge präsentieren.
Im Gegensatz dazu steht das bekannte Muster (Bild unten) auf dem Gegenstück – Rosenstichquadrate im Grundstichgitter.


Alles in Allem konnte ich hier wieder einmal eine sehr eigentümlich und individuell gestaltete Stickerei vorstellen, die man nicht alle Tage zu Gesicht bekommt.

Historische Schwälmer Weißstickerei und Maschinenspitze

Schwälmer schätzten den Wert von Dingen, die sie kaufen mussten, oft gleich hoch oder sogar höher ein als von selbst handgefertigten Artikeln. So fanden sie es aufwertend, aufwändig und fein bestickten Kissenbezügen, Bettüberwürfen und Türvorhängen maschinell gefertigte Spitze hinzu zu fügen.

Besonders beliebt waren solche Borten – sogenannte „Glockenborten“ – als Randabschlüsse der Stickereien.

Dies waren feine, maschinell hergestellte Spitzenbänder kombiniert mit dicken, kunstvoll verknoteten Fransen.

Ein Türvorhang von 1845 mit einer Kreuzstichkrone,


einer hohen Weißstickereiborte und lichten Musterbändern in der Mitte,


sowie weiteren lichten Musterbändern mit doppeltem Erbslochhhohlsaum zu beiden Seiten bekam eine zusätzliche Verzierung aus maschinell gefertigter Spitze am unteren Rand.


Ein alter Bettüberwurf mit einer prächtigen Schwälmer Krone und aufwändigen Stopfhohlsäumen sowie Einsätzen von Klöppelspitze


erhielt einen Randabschluss aus maschinell gefertigter Spitze.


Auch ein Bettüberwurf von ca. 1860 – sehr individuell und aufwändig bestickt –


erhielt einen maschinell gefertigten Randabschluss.


Weitere herausragende Beispiele feinster Weißstickerei in Verbindung mit maschinell hergestellter Spitze findet man im Schwälmer Dorfmuseum Holzburg, wie dieses Teil von 1839.


Neben den Glockenborten nutzten die Schwälmerinnen auch gern maschinell hergestellte Spitzenbänder als Einsatz zwischen Handstickerei.
Auf dem unten zu sehenden Kissenbezug ist das maschinell hergestellte Spitzenband auf beiden Seiten von Stopfhohlsäumen eingefasst.


Ein Bettüberwurf zeigt eine Kreuzstichkrone, Stopfhohlsäume mit vielen verschiedenen Mustern, eingesetzte maschinell gefertigte Spitze


und zwei unterschiedliche Glockenborten an den Rändern.


Das Schwälmer Dorfmuseum in Holzburg zeigt neben sehr vielen anderen außergewöhnlichen Exponaten einen interessanten Bettüberwurf. Er ist mit Elementen der frühen Schwälmer Weißstickerei aufwändig verziert, mit einer prächtigen Schwälmer Krone versehen und auf das Jahr 1822 datiert.


Zusätzlich wurde er mit einem Einsatz aus maschinell hergestellter Spitze verziert. Der Rand wurde mit maschinell hergestellter Glockenspitze versehen. Freundlicherweise bekam ich die Erlaubnis, diese Bilder auf meinem Blog zu zeigen. Die Ausschnitte können leider nicht die volle Pracht des ausgestellten Stückes wiedergeben. Aber man kann die Schönheit und Einzigartigkeit erahnen. Das kleine, aber feine Museum ist immer einen Besuch wert und freut sich über jeden Besucher, der an Details solch ausgesuchter Arbeiten interessiert ist.

Übergang von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei (3)

Mein drittes Beispiel aus einer Übergangszeit von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei ist noch im Originalzustand. Es handelt sich um ein Miederjäckchen, das nach der Fertigstellung schwarz eingefärbt und anschließend mit Wachs behandelt wurde, um Glanz zu verleihen und vor Flecken zu schützen.


Verwendet wurde 14/18-fädiges Leinen – also relativ grobes Gewebe für diesen Gebrauch. Das Jäckchen wurde an den Vorderkanten und an den Ärmelaufschlägen bestickt.


Die Vorderkanten zeigen eine drei Zentimeter breite Borte mit ornamentaler Stickerei – auf beiden Seiten begrenzt von Kerrercher (umschlungenen Spannstichen) -, einen 3-stufigen Stopfhohlsaum und Nadelspitze.


Die Ärmelbündchen sind in einem breiteren Bereich bestickt. Vier verschiedene, schmale Borten – jede 3 cm hoch – wurden zu einem Design kombiniert. Solch eine Zusammenstellung einzelner schmaler Borten ist selten zu finden.
Als Motive wurden ausschließlich Kreise verwendet. Kettenstiche oder breite Stielstiche, kombiniert mit 2 kurz-2 lang, geschnürten Messerspitzen oder geschnürten Bögen bilden die Ränder der Motive. Blätter wurden mit Plattstichen gearbeitet.


Die Abschlusskante ist mit einer 1,5 cm breiten Nadelspitze dekoriert.


Daran schließt sich eine Borte an, in der Stiele, Spiralen und kleine Kreise mit Knötchenstichen gestickt wurden. Dies sind die einzigen Knötchenstiche der gesamten Ärmelbündchen-Stickerei dieses Jäckchens.


Alle fünf Motive dieser Borte sind ohne Fadenauszug in den Flächen bestickt. Zwei Kreise sind mit einem Schnürloch versehen.


Die übrigen drei wurden mit kleinen Mittelkreisen aus Knötchenstichen, die von Kerrercher umgeben sind, bestickt. Die Kerrercher bilden eine Sternform.

Die zweite Borte enthält keine Knötchenstiche, aber Flächen mit Fadenauszug. Bei allen Füllmuster mit Fadenauszug – außer einem – handelt es sich um Limetmuster.
Bei zwei der fünf Kreise wurde das Muster mit Kästchenstichen gebildet,


zwei Kreise zeigen eine Kombination aus Kästchenstichen und Grundstichen. Diese Kombination sieht man als Limet-Flächenfüllmuster äußerst selten.


Erwähnenswert – gut sichtbar an der oberen Kante der obigen Fläche – ist die Arbeitsweise von 2 kurz-2 lang. Hier wurde eine Runde dichter Plattstiche gleicher Länge gearbeitet und eine zweite Runde mit paarweise angeordneten Plattstichen zwischen die Stiche der ersten Runde gesetzt.

Das fünfte Muster besteht aus Rosenstichen.


Die dritte Borte zeigt wiederum Flächen ohne Fadenauszug. Alle fünf Kreise sind mit dem gleichen Muster bestickt – Dreier-Schlingstich-Bündel. Die Schlingstiche sind nicht aufliegend; sie wurden durch das Gewebe gestochen.


Die Borte ist oben und unten durch eine Reihe breiter Stielstiche begrenzt.


Die vierte Borte enthält sechs Motive. Eine Fläche (rechts im obigen Bild) ist mit einem einfachen Durchbruchmuster gefüllt. Es handelt sich um Mückenstiche. Zwei Kreise zieren Kästchenstich-, drei Rosenstich-Muster.


Die Initialen CDNASI, getrennt durch kleine Kreuzstichornamente, wurden gestickt. Leider wurde keine Jahreszahl vermerkt.


In diesem Beispiel findet man einige Elemente, die für die frühe Schwälmer Weißstickerei typisch sind: breite Stielstiche zum Gestalten der Stiele und zur Umrandung einiger Flächen sowie Flächen ohne Fadenauszug gefüllt mit Zierstichen oder 3-er Gruppen von Schlingstichen.

Übergang von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei (2)

Übergang von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei (2)

Auch der zweite meiner Schätze aus einer Übergangszeit von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei ist nicht mehr im Originalzustand. Es war ursprünglich ein Paradekissen und wurde zu einem Tischläufer umgearbeitet

Verwendet wurde 19-fädiges handgewebtes Leinen. Die Stickerei misst 14 cm x 80 cm; die Borte ist begrenzt durch zwei, je 5,5 cm hohe, 9-stufige Stopfhohlsäume mit Erbslochhohlsaum auf beiden Seiten.


Auch dieses Beispiel zeigt nur eine leichte Kombination beider Stickrichtungen der Schwälmer Weißstickerei. Im Gegensatz zu der Borte von 1804 ist die hier vorliegende Stickerei sehr dicht ausgeführt. Jede auch noch so kleine Fläche ist mit Stichen besetzt.

Alle großen Motive sind mit lichten Mustern gefüllt, aber viele der kleineren Flächen wurden mit Mustern ohne Fadenauszug bestickt. (In der frühen Schwälmer Weißstickerei war die Wahl kleinerer Motive üblich, während die spätere Art große bis sehr große Musterflächen bevorzugte. Je größer die Flächen, desto schwieriger ist es, sie mit Mustern der frühen Phase zu besticken.)


In der Mitte sieht man ein Design aus einem Herzen mit drei großen Tulpen, zwei Kreisen und zwei Flächen, die in ihrer Form dem vorhandenen Platz angepasst wurden. Diese beiden Motive haben Rosenstich-Muster; alle anderen Flächen wurden mit Stopfstich-Mustern gefüllt, wobei die beiden mittleren Motive figürliche Stopfstich-Muster erhielten.


Eine Blume und ein Blumentopf, begrenzt durch große Vögel, sind links und rechts des Mittelmusters zu finden. Zwischen den großen Motiven finden sich viele kleine Flächen ohne Fadenauszug.


Herzformen, gefüllt mit Blättern,


oder Blümchen,


oder einfach nur mit Plattstichen sind zu finden.


Auch sieht man eine kleine Tulpe mit einem Muster, das aus paarweise angeordneten Schlingstichen gebildet wurde.


Das gleiche Muster mit paarweise angeordneten Schlingstichen findet sich in Herzformen unten links sowie


unten rechts in der Borte. Wobei links nur ein größeres Herz und rechts zwei kleinere Herzen angeordnet sind (leider ist ein Teil der Stickerei durch die später für die Umnutzung zugefügte Naht verdeckt).
Wie man sehen kann, ist das Design nicht ganz symmetrisch angeordnet. Drei der Vögel haben eine relativ vertikale Ausrichtung, während der vierte nahezu horizontal angeordnet ist.


In diesem Beispiel wurden Knötchenstiche und Kettenstiche gestickt, aber keinerlei Stielstiche. Es sind viele kleine Spiralen zu finden. Die Flächen wurden entweder mit zwei Reihen von Kettenstichen oder einer Reihe von Knötchenstichen und einer zusätzlichen Reihe von Kettenstichen umgeben. Zusätzliche Umrandungen wurden mit 2 kurz-2 lang, Schlingstich- und Plattstich-Messerspitzen, Schnürlochbögen und Kerrercher (siehe: Schlängchen & Co.) gebildet.


Kerrercher sind nicht nur als Umrandungsstiche zu finden, wie hier um den Kreis,


sondern auch als Zierstiche wie am Hals des Vogels


oder oberhalb der Tulpe.

Die Stopfstich-Figuren in den verschiedenen Flächen sind nicht immer gelungen.

Das Mittelteil des Blumentopfes wurde mit einem selten zu findenden lichten Rosenstich-Muster bestickt.


In diesem Beispiel findet man einige Elemente, die für die frühe Schwälmer Weißstickerei typisch sind: insgesamt gibt es siebzehn kleine Motive ohne Fadenauszug. Fünf davon sind mit paarweise angeordneten Schlingstichen gefüllt, vier mit Plattstichen, vier mit Schlingstich-Blättern, zwei mit Schnürlöchern und Kerrercher und zwei mit Blümchen (und Spiralen).

Übergang von früher zu späterer Schwälmer Weißstickerei (1)

Vor mehr als zweihundert Jahren ging die frühe Schwälmer Weißstickerei in die spätere Art der Schwälmer Weißstickerei über. Die Übergangszeit war relativ kurz. Die Region der Schwalm, in der diese Stickereien entstanden, ist klein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man historische Zeugnisse der Stickerei dieser Übergangsphase heute nur schwer finden kann.

Eine meiner Kundinnen, die sowohl die Muster der frühen als auch der späteren Art mag, fragte mich nach überlieferten Beispielen, die beide Mustertypen enthalten. In meiner Sammlung fand ich drei Stücke einer leichten Mischung beider Arten. Diese Schätze will ich nun nach und nach auf meinem Blog zeigen – hier ist das erste Stück. Leider ist es nicht mehr im Originalzustand. Aufgrund der Breite gehe ich davon aus, dass die Stickerei ehemals als Türvorhang genutzt wurde.

Verwendet wurde 19-fädiges handgewebtes Leinen. Die gesamte Borte misst 20 cm x 36 cm; die Stickerei alleine hat eine Höhe von 16 cm. Sie ist begrenzt durch zwei unterschiedliche Stopfhohlsäume – einem mit Spinnen und einem ohne.


Da die Jahreszahl – 1804 – vermerkt wurde, ist die Stickerei zeitlich exakt einzuordnen. Ebenso zu finden sind Initialen und kleine Ornamente in Kreuzstich. Leider zerfallen Fäden, die gelb oder golden eingefärbt wurden, eher als Fäden anderer Farben. Unter der Lupe kann ich die Initialen AKRHSI getrennt durch Ornamente, zwei Vögel


und ANO 1804 erkennen.


Es ist auffallend, dass weder Knötchen- noch Kettenstiche gearbeitet wurden. Die Ränder der Motive wurden mit breiten Stielstichen gestickt. Zusätzliche Umrandungen wurden mittels Wimpernstichen, geschnürten Bögen und Plattstichbögen gearbeitet.

Auch Stiele wurden mit breiten Stielstichen ausgeführt. Einige Stiele haben eine Doppellinie, zwischen die Hexenstiche gestickt wurden – so, wie es in der frühen Schwälmer Weißstickerei üblich war. Blätter wurden mit Schlingstichen gearbeitet. Spiralen sind nicht zu finden.


Das einzige Flächenfüllmuster ohne Fadenauszug findet sich in zwei Bereichen links und rechts des Mittelmotivs.


Es wurde mit paarweise angeordneten Schlingstichen ausgeführt. Dabei liegen die Schlingstiche nicht komplett auf den Stoff, sondern sie wurden durchgestochen.


Die sechs Kreise wurden mit unterschiedlichen Nadelspitzen gefüllt.


Alle übrigen Motive wurden mit lichten Mustern bestickt.


Das obige Motiv zeigt ein Rosenstichmuster in einem lichten Grundstichgitter.


Auch das Mittelmotiv wurde mit einem lichten Muster verziert, hat aber kein Grundstichgitter. Rosenstiche und Kästchenstiche lassen dieses Muster entstehen.


Nie zuvor habe ich ein lichtes Muster aus einer Kombination von Rosenstichen und Kästchenstichen wahrgenommen.


Das kleine Herz ist mit dem gleichen Muster gefüllt, nur wurde hier der Fadenauszug mit 3 stehenbleibenden und 3 ausgezogenen Fäden vorgenommen.


Das große Herz wurde mit einem lichten Rosenstichmuster ohne Grundstichgitter gefüllt.


Ebenso ohne Grundstichgitter wechseln sich Reihen von Rosenstichen mit Reihen von Grundstichen ab.


Das letzte Motiv zeigt ein lichtes Rosenstichmuster mit Grundstichgitter.

In diesem Beispiel sieht man einige Elemente, die typisch für die frühe Schwälmer Weißstickerei sind: breite Stielstiche anstelle von Knötchenstichen für die Umrandung der Motive und die Stiele, ebenso Stiele mit Doppellinien, gefüllt mit Hexenstichen. Spiralen fehlen und ein Flächenfüllmuster wurde ohne Fadenauszug gestickt.