Die Technik, die man heute landläufig als “Schwälmer Weiß­stic­kerei“ (siehe auch: Typische Merkmale der Schwälmer Weiß­stic­kerei) bezeichnet, fand ihre Verbreitung ungefähr mit dem Beginn des 19. Jahrhun­derts.

Es gab aber einen Vorläufer schwalm­typischer Weiß­stic­kerei – die „Frühe Schwälmer Weiß­stic­kerei“. Sie wurde ungefähr ab Mitte des 18. Jahrhun­derts praktiziert.

Die Stickerei fand man haupt­sächlich auf reich verzierten Bettdecken, auf Paradekissen und Zierhand­tüchern, an Frauen­miedern und Männer­hemden, auf Ziertaschen­tüchern für besonders festliche Anlässe und auf Tauftüchern.
Solche Stickereien findet man im „Museum der Schwalm“ in 34613 Schwalm­stadt-Ziege­nhain
und im „Schwälmer Dorfmuseum Holzburg“ in 34637 Schrecksbach-Holzburg.

Mit dem ersten Weltkrieg (1914-1918) erlebte die ursprüng­liche Schwälmer Weiß­stic­kerei einen ersten Rückgang.

Frau Alexandra Thielmann (1881-1966) versuchte, dem entgege­nzuwirken. Sie gründete eine Werkstatt und beschäf­tigte junge Frauen und Mädchen, entwarf neue Muster und ließ damit vorwiegend Tisch­wäsche besticken, die in ganz Deutschland verkauft wurde.

Das endgültige Aus drohte der Stickerei nach dem zweiten Weltkrieg (1939-1945) in der Mitte des 20. Jahrhun­derts mit dem Ablegen der Tracht und der Hinwendung zum „modernen“ Leben.

Viele engagierte Frauen versuchten, sich dem entgege­nzus­temmen.

Thekla Gombert (1899-1981) machte – nicht zuletzt durch die Veröf­fent­lichung ihrer Bücher – die Stickerei weit über die Schwalm hinaus bekannt. Und in den 70er Jahren des 20. Jahrhun­derts ergriffen die Volkshoch­schulen und die Landfrauen­vereine große Initiativen, um das Wissen und Können dieser einmaligen Stick­technik am Leben zu erhalten. Als „Hessen­stic­kerei“ bezeichnet erwachte sie zu neuem Leben.

Geän­derter Arbeit­salltag, verän­derte Freizeitge­staltung und moderne Medien drängten die Handarbeit allgemein und so auch die Schwälmer Weiß­stic­kerei immer mehr in den Hinter­grund. Heute wird die Technik in Deutschland nicht mehr flächen­deckend, aber dennoch von einer statt­lichen Anzahl – aller­dings meist älterer Frauen – beherrscht.

Die Globalisierung und das Internet­zeitalter aber tragen dazu bei, dass sich immer mehr Menschen rund um die ganze Welt für diese einzigartige Stickerei interes­sieren und sie praktizieren. Zahlreiche Bücher – in unter­schied­licher Qualität – erscheinen zu diesem Thema in verschiedensten Sprachen und dienen so der Erhaltung der Schwälmer Weiß­stic­kerei, die sich heute facetten­reicher denn je zeigt.

Modelbuch

ModelbuchMit der Erfindung der Buchdrucker­kunst entstanden zu Beginn des 16. Jahrhun­derts die ersten Model­bücher. Sie verbreiteten sich über ganz Europa.

Es gab Vorlagen für fadenge­bundene (gezählte) sowie auch für nicht-fadenge­bundene (freie) Stickereien.

Die fadengebun­denen Stickereien blieben über Jahrhun­derte hinweg weitgehend gleich, während die nicht-fadengebun­denen Stickereien starkem Wandel unter­lagen. Nicht viele Leute konnten sich den Erwerb eines teuren Buches leisten, und so wurden die Muster durch Abzeichnen verbreitet und weiterge­geben. Dadurch entstanden zwangs­läufig gering­fügige Unge­nauig­keiten und Abweic­hungen, die im Laufe der Zeit zu sehr unter­schied­lichen Musterungen in den verschiedenen Regionen Europas geführt haben.

Abge­wandelt wurden aber nicht nur die Muster­zeich­nungen, sondern auch die Techniken, in denen diese Muster gear­beitet wurden. Zeitge­schmack und die Begeis­terungs­fähigkeit Einzelner führte dazu, dass durch den Austausch einzelner Elemente die Stickerei abge­wandelt wurde und sich allmählich verän­derte.

Schwälmer Weiß­stic­kerei

Schwälmer Weiß­stic­kereiDie ursprüng­liche Art zeigt dicht bestickte, gerade Borten meist großer Motive wie Herz, Tulpe, „Sonne“ und Korb oder Blumentopf. Diese Motive wurden mit unter­schied­lichsten Durch­bruch­mustern verziert. Umran­dungen, Stiele und Ranken wurden in Knöt­chen­stichen ausge­führt. Freir­äume zwischen den großen Motiven wurden mit Blättchen und Ranken gefüllt.

Diese Borten wurden fast immer begrenzt durch Käst­chen­hohlsaum oder durch Erbsloch­hohlsaum, meistens aber durch Stopfhohl­säume.

Frühe Schwälmer Weißstickerei­

Frühe Schwälmer Weiß­Es gab aber einen Vorläufer schwalm­typischer Weiß­stic­kerei – die „Frühe Schwälmer Weiß­stic­kerei“. Sie wurde ungefähr ab Mitte des 18. Jahrhun­derts praktiziert.

Diese Technik zeigte die gleichen Motive – Herzen, Sonnen, Tulpen und andere Blumen in ähnlicher Anordnung. Vögel waren eher rar und auch die spiral­för­migen Ranken wurden sparsamer einge­setzt, dafür fand man viele kleine Blätter.

Die Umrisse der Motive und die Stiele jedoch wurden nicht mit Knöt­chen­stich gear­beitet, sondern meistens mit Stiel­stichen, manchmal auch mit Ketten­stichen nachge­zeichnet. Und die Motive wurden nicht mit Limet­mustern (Durch­bruch­mustern) und Lichten Mustern gefüllt, sondern meistens mit auf dem Stoff aufliegenden Mustern oder Platt­stich­mustern.

Über­gangs­formen

Über­gangs­formenDazwischen gab es Über­gangs­formen, die sowohl aufliegende Muster und Platt­stich­muster als auch Knöt­chen­stiche zeigen.

Bettüberwurf aus 1876

BettüberwurfBettüber­würfe – wie dieser aus dem Jahre 1876 – wurden am Kopfende und meist an der dem Raum zugewandten Seite reich verziert.
Am Kopfende erhielten sie einen breiten Über­schlag.
So wurden sie zum Teil von der rechten, zum anderen Teil von der linken Stoff­seite aus bestickt, damit am Ende auch die Muster des Über­schlages von rechts erschienen.

Paradekissen

Paradekissen„Paradekissen“ waren große Kissenbe­züge. Sie waren prall gefüllt und mit rotem Inlett ausge­stattet. So kamen Stopfhohl­säume und prächtige Muster­borten besonders gut zur Geltung. Die Muster „prahlten“, wie es im Volksmund hieß. Paradekissen und Bettüber­würfe wurden nur an beson­deren Festtagen und auch nur zur Zierde verwendet.

Frauen­mieder

FrauenmiederDie meisten Frauen­mieder wurden unter Westen getragen. Daher waren Vorder- und Rücken­teile sehr schlicht gehalten. Die Ärmelum­schläge aber waren dafür umso präch­tiger geschmückt: mit breiten Muster­borten, aufwen­digen Stopfhohl­säumen und kunst­vollen Nadel­spitzen.

Mieder­jäckchen

MiederjäckchenEs gab aber auch Mieder­jäckchen, die dann auch an den Front­leisten aufwendige Stickereien und Nadel­spitzen zeigten. Diese Mieder­jäckchen wurden nach Beenden der Handarbeit schwarz einge­färbt und mittels Wachs zum Glänzen gebracht.

Männer­hemden

MännerhemdDie Männer­hemden für den Feier­tags­staat zeigten feine Stickereien und Nadel­spitze, manchmal auch noch Stopfhohl­säume, an Kragen, Manschetten und Halsaus­schnitt.

Bräutigam­shemden waren auch im Rückenteil aufwendig bestickt und mit einer „Krone“ versehen.

Ziertaschen­tücher

ParadetaschentuchZu Abendmahlsgottes­diensten an besonders hohen Feier­tagen trug man zur Zierde Taschen­tücher, die auf feinstem Leinen­batist bestickt und meist mit einer Klöppel­spitze einge­fasst wurden. Diese Tücher wurden nach Fertig­stellung der Stickerei blau einge­färbt.

Alexandra Thielmann

Alexandra ThielmannMit dem Zurück­gehen der Tracht und der damit verbun­denen strengen, bäuer­lichen Lebensweise suchte man nach anderen Verwen­dungs­mög­lich­keiten für die Stickerei. Damit einher­gehend kam auch eine Wandlung der Muster­zeich­nungen.
Alexandra Thielmann (1881 -1966) „entschlackte“ die Entwürfe und entwarf neue Blüten­formen. In fast all ihren Mustern findet man viele, spitz zulaufende Blätter. Einer­seits passte sie sie dadurch dem Zeitge­schmack an, anderer­seits war die Stickerei nicht mehr ganz so zeitauf­wändig und blieb auf diese Weise bezahlbar.
Mit diesen Mustern wurden in ihrer – Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhun­derts gegrün­deten – Werkstätte für Schwälmer Bauer­nstic­kerei Kinder­kleider aller Art, Damenk­leider, feine Taschen­tücher, Leib- und Bettwäsche, Sofakissen, Altar­decken, haupt­sächlich aber Tisch­decken bestickt und in ganz Deutschland verkauft.

Thekla Gombert

Thekla GombertThekla Gombert (1899 -1981) „moder­nisierte“ die Entwürfe ein weiteres Mal. Klare, nicht allzu große Formen und abge­rundete oder sehr viele kleine Blätter sind ihr typisches Merkmal.
Mit der Herausgabe ihrer Anleitungs­bücher Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhun­derts leistete sie einen großen Beitrag zur Erhaltung und Verbreitung der Technik der Schwälmer Weiß­stic­kerei.

3 Kommentare
  1. eigentlich ist alles gesagt über dieses schöne und aufwändiges
    Verzieren durch Frauen und Mädchen in dieser Zeit. Da war auch die
    Geselligkeit ganz begehrt und man hat erzählt und gelacht.
    Es zeugt von Hessen, wo weit in die moderne Zeit sich handwerklich
    einiges Schönes und Hilfreiches bis in ca. 1968 erhalten hat.
    In Hessen war immer was Los,im Backhaus wurde noch Brot gebacken,
    bei Stellmacher wurden noch Leiterwagen gebaut und auf der Kirmes
    waren fast alle im Dorf versammelt. Und beim Frisör saßen ca. 20
    Männer und da ging es heiß her und kaum einer wolle an der Reihe sein.

    Bärbels Besuch

  2. Ja, so war’s auch in Thüringen, der Konsum, der Bäcker und die Post waren die erste Adresse, wo man das Neueste vom Dorf erfahren konnte. Kirmestanz, Fasching und auch das kleine Dorfkino sorgten für Unterhaltung. Der Pfarrer von der ev Kirche verstanden es die Kinder und Jugend gut zu beschäftigen. Fast jedes Kind im Dorf lernte ein Musikinstrument und Frauen trafen sich um gemeinsam an den langen Abenden im Winter Handarbeit zu machen. Es wurden Strickmuster ähnlich wie Kochrezepte getauscht. Kinder Spielten im ganzen Dorf ohne Aufsicht, jeder wusste auch ohne Uhr und sonstiges wann Feierabend ist und nach Hause geht. Ob es besser war? Ich denk schon, Kontakte wurden persönlich gepflegt. Es wurde viel selbst hergestellt,ob es das Gemüse aus dem eigenen Garten war, oder die selbst genähten Kleider, Röcke usw

    • Danke für den Kommentar. Ja, die Zeiten haben sich geändert. Ich bin mir aber sicher, dass Gemüseanbau im eigenen Garten, nähen eigner Kleidung oder auch Sticken irgendwann wieder mehr Beachtung findet.

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