Schwälmer Weißstickerei – Was ist das und wie geht das?

Schwälmer Weißstickerei – Was ist das und wie geht das?

Der 17. Oktober ist der internationale Tag des Immateriellen Kulturerbes. Die Trägerschaften sind aufgerufen, diesen Tag für die Vorstellung ihrer jeweiligen Kulturform zu nutzen.

Daher soll interessierten Besuchern in diesem Blogbeitrag kurz erklärt werden, worum es sich bei der Schwälmer Weißstickerei/Hessenstickerei handelt, wie sie ausgeführt wird und welch riesige Möglichkeiten der individuellen Gestaltung sie bietet.

Die Stickerei erhielt ihren Namen, weil sie sich in dem kleinen Landstrich der Schwalm in Hessen/Deutschland zu ganz besonderer Blüte entwickelte und dort auch die Jahrhunderte überdauerte. Um Stickerinnen auch außerhalb der Schwalm die Möglichkeit zu geben, sich mit der Technik zu identifizieren, wurde sie in den 1960er Jahren auch „Hessenstickerei“ genannt.

Schwälmer Weißstickerei wird mit weißem Garn auf weißem Leinen gearbeitet. Maschinell ist sie bis heute nicht herstellbar. Es handelt sich bei ihr um eine Kombination unterschiedlicher Techniken.

Um die Stickerei ausführen zu können, benötigt man zuerst ein Konturenmuster. Es besteht aus großen Motiven einfacher Formen und kleinen Elementen in den Zwischenräumen.

Im Bereich der Zwischenräume bleibt das Gewebe unbeschädigt. Es wird mit Zierstichen überdeckt – so genannter Oberflächenstickerei.

Innerhalb der Motive werden dem Gewebe Fäden entnommen. Die Anzahl ist abhängig vom vorgesehenen Muster, das in das entstandene Gitter gestickt wird. Diese Technik nennt man Durchbruchstickerei.

Die dritte Technik, die zur Anwendung kommt, ist die Ausschnittstickerei. Hier wird das Gewebe innerhalb der Motive vollständig weggeschnitten und durch Stickstiche – so genannter Nadelspitze – ersetzt.

Man muss nur 13 unterschiedliche Stiche beherrschen, um die Schwälmer Weißstickerei ausführen zu können. Durch die Kombination dieser Stiche aber kann man auf einen Schatz von ca. 1000 Mustern zurückgreifen. Diese enorme Vielfalt in Verbindung mit den unendlich abwandelbaren Konturenmustern macht die Stickerei so abwechslungsreich und überaus interessant.

Je nach Lust und Laune kann man Kleinigkeiten besticken, etwas größere Projekte in Angriff nehmen, herausragende Stickereien entstehen lassen oder sogar Gemeinschaftsprojekte realisieren.

Der Werdegang der Durchbruch-Motivstickerei, die notwendigen Stiche und der Unterschied zwischen den Flächenfüllmuster-Kategorien

Zuerst müssen die Konturen des gewünschten Motivs auf den Stoff übertragen werden.

Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten:
• Aufbügeln mit Hilfe eines Bügelmusterstiftes
• Aufzeichnen mit Hilfe einer Lichtunterlage (z.B. Light-Pad oder Fenster) und eines wasser– oder hitzelöslichen Stiftes
Durchpausen oder Durchstechen mit blauem Durchschreibepapier
Aufdrucken mittels Schablone

(Siehe auch: Schwälmer Band (1) Musterübertragung )

Man überdeckt zunächst alle Linien mit Stichen, denn es kann vorkommen, dass sie im Laufe der Zeit verblassen oder ganz verschwinden.

Man verwendet Vierfachstickgarn und arbeitet mit drei, manchmal auch vier verschiedenen Garnstärken, abhängig von der Feinheit des Gewebes.

Mit dem dicksten Garn werden zuerst die Knötchenstiche (Korallen-Knötchenstiche oder auch linienbildende Knötchenstiche genannt) über die Haupt-Konturenlinien, die Stiele und Spiralen gestickt. Sie dienen zum einen zur Konturierung, zum anderen sichern sie das Gewebe des Motivs beim späteren Fadenauszug.

(Da es zu weit führen würde, alle Stiche im Einzelnen in diesem Blogbeitrag zu erklären, findet man demnächst für jeden Stich einen gesonderten Blogpost.)

Gerundete Blätter werden üblicherweise mit Schlingstichen gearbeitet, ebenso Halbkreisbögen (sogenannte Schnürlochbögen), kleine Kreise (sogenannte Schnürlöcher) und Dreiecksspitzen (sogenannte Messerspitzen.
Die Schwälmer Weißstickerei beinhaltet neben den gerundeten Blättern auch kleine spitze Blätter, die geteilt oder ungeteilt gestickt werden können, und herzförmige Blätter. All diese werden mit Plattstichen ausgeführt.

Sind alle Linien mit Stichen überdeckt, kann man die Ausgestaltung der Motivflächen beginnen.

Zierstichumrandungen – hier: „Schnürlochbögen“ – lassen die Motive gefälliger erscheinen, müssen aber nicht zwangsläufig alle Formen umschließen.

Um die Fadenenden der später auszuziehenden Gewebefäden zu verdecken, stickt man Kettenstiche dicht innerhalb der Knötchenstiche.

Um Durchbruchmuster vorzubereiten, zieht man dann von der Rückseite der Arbeit aus innerhalb der Motivflächen Gewebefäden aus und schneidet sie dicht an den Kettenstichen ab.

Es gibt drei Arten von Durchbruchmustern – einfache und Doppeldurchbruchmuster. Letztere unterscheidet man in Limet- und lichte Durchbruchmuster.

Für ein einfaches Durchbruchmuster wird – entweder vertikal

oder horizontal – jeder vierte Gewebefaden ausgezogen.

In den auf diese Weise vorbereiteten Grund stickt man hauptsächlich Mückenstiche– und

Waffelstiche sowie

Wickelstiche in „Stangen“ oder Kombinationen dieser Stiche.

Für ein Limet-Durchbruchmuster entfernt man gewöhnlich jeden vierten Faden sowohl horizontal als auch vertikal.

In das entstandene Limetgitter stickt man hauptsächlich Kästchenstiche, Marburger Grundstiche, Rosenstiche, Limetrosen und Wickelstiche. Durch Kombinationen dieser Stiche ergibt sich eine riesige Anzahl an unterschiedlichen Flächenfüllmustern, die völlig andere Erscheinungsbilder abgeben können,

Aufbau eines Rosenstichrasters im Limetgrund

Fertiges Limetmuster aus Rosenstichen und Limetrosenteilen

Limetmuster aus Kästchenstichen und Rosenstichen

Limetmuster aus Wickelstichen und Rosenstichen

Limetmuster aus Kästchenstichen und Rosenstichen

Limetmuster aus Wickelstichen, Limetrosenteilen und Kästchenstichen

Limetmuster aus Rosenstichen und Kreuznahtstichen

Für ein lichtes Durchbruchmuster werden paarweise Fäden zwischen jeweils 2 stehend bleibenden Fäden ausgezogen – sowohl horizontal als auch vertikal. Durch das Entfernen der Hälfte der Gewebefäden wird der Stoff durchscheinend, also „licht“.

Manche Muster werden direkt in dieses lichte Grundgitter gestickt,

Lichtes Muster aus Grundstichen und Rosenstichen

meist aber wird das Gitter durch Grundstiche gesichert.

In das Grundstichgitter werden meist Stopfstiche

oder Rosenstiche

oder Kombinationen beider gearbeitet.

Es gibt mehrere hundert lichte Muster.

Neben den oben gezeigten Endlosmustern werden lichte Grundstichgitter in der Schwalm auch gern mit figürlichen Mustern verziert.

Sterne und

Herzen

spielen hier eine große Rolle, aber auch Tulpen, Vögel und andere Tiere sowie Männchen und Weibchen kann man finden.

In Verbindung mit der überaus großen Anzahl an Limetmustern und der Vielzahl der einfachen Durchbruchmuster kann man auf eine Auswahl von annähernd 1000 unterschiedlichen Flächenfüllmustern zurückgreifen.

Mit den immer wieder abwandelbaren Konturenmustern, der breiten Palette an Flächenfüllmustern und der Art der zu bestickenden Gegenstände kann jedes Stickprojekt zu einem absoluten Unikat werden.
Diese Möglichkeit wird heutzutage wieder sehr geschätzt.

Auch die gesundheitlichen Vorteile sollten nicht unbeachtet bleiben. Am Ende des Tages ein greifbares Ergebnis seiner Tätigkeit in Händen halten zu können, stärkt die Psyche. Die Nutzung beider Hände ist wichtig, um Gehirnleistung aufrecht zu erhalten.

Einen Überblick über mögliche Gestaltungen der Schwälmer Weißstickerei kann man durch die Thumbnails erhalten. Durch den Klick auf ein interessantes Bild kann man tiefer in die jeweilige Materie vorstoßen.

Flächenfüllmuster Nr. 583

Kategorie: einfaches Durchbruchmuster
verwendetes Leinen: 13.5-fädig
verwendetes Garn: Vierfachstickgarn Nr. 20
angewandte Stiche: Mückenstiche
horizontale Mitte: Fadenrinne

Zuerst entfernt man den mittleren Gewebefaden in der Richtung, in der das Muster später laufen soll.

Von der entstandenen Fadenrinne ausgehend lässt man jeweils 5 Gewebefäden stehen und zieht einen Gewebefaden aus.

Erneut von der mittleren Fadenrinne ausgehend überspringt man eine 5-Faden-Gruppe und zieht den mittleren der nächsten 5-Faden-Gruppe aus.

Dann überspringt man jeweils zwei 5-Faden-Gruppen und zieht den mittleren der nächstfolgenden 5-Faden-Grupe aus.

Dadurch entsteht ein Wechsel aus jeweils zwei 5-Faden-Gruppen mit jeweils zwei 2-Faden-Gruppen.

In der Mitte beginnend (hier um 90° gedreht), arbeitet man nun Mückenstiche über 6 Gewebefäden in der Breite,

sowohl über die 5-Faden-Gruppen

als auch über die 2-Faden-Gruppen.

Durch den Wechsel jeweils zwei hoher und zwei flacher Mückenstichreihen entsteht ein interessantes, leicht zu stickendes Streifenmuster. Dies kann man – je nach gewünschter Wirkung – sowohl horizontal

als auch vertikal gut einsetzen.

Dieses Muster hat Yasuko Kobayashi aus Japan gestickt. Sie hat auch erlaubt, dass ich es hier zeigen darf.
Herzlichen Dank für´s teilen, liebe Yasuko!

Siehe auch: Schwälmer Stickereien – zu Hause in aller Welt

Flächenfüllmuster Nr. 568

Kategorie: einfaches Durchbruchmuster
verwendetes Leinen: 13.5-fädig
verwendetes Garn: Vierfachstickgarn Nr. 20
angewandte Stiche: Kästchenstiche
horizontale Mitte: Vierer-Fadenbündel

Bei Sticken von Flächenfüllmuster Nr. 567 fand ich das auf der Rückseite entstehende Muster auch sehr interessant. Daher habe ich es als Frontmuster ausprobiert. Das im Folgenden gezeigte Muster ist nur eine Arbeitsprobe. Eingebettet in eine Motivfläche findet man das Muster am Ende dieses Beitrages.

Weil es sich um das gleiche, nur umgekehrte Muster handelt, sind die Vorarbeiten gleich. Der Einfachheit halber zeige ich sie hier nochmal.
Es ist sinnvoll, mit dem Fadenauszug in der Mitte zu beginnen. Neben 4 stehen bleibenden Fäden wird auf jeder Seite ein Fadenpaar ausgezogen.

Von dort werden abwechseln jeweils 4 Fäden stehen gelassen und 2 Fäden ausgezogen.

Man dreht die Arbeit um 90°,wendet sie aber diesmal nicht zur Rückseite.
Über die vier mittleren Fäden werden von links nach rechts Kästchenstiche gestickt, die jeweils 4 Gewebefäden bündeln.

Die Kästchenstiche der benachbarten Reihen werden jeweils um 2 Gewebefäden versetzt gearbeitet.

Dadurch erhalten die verbliebenen Gewebefäden der Fadenrinnen eine zickzackförmige Ausrichtung.

Das Vernähen erfolgt entweder unter den Randstichen oder auf der Rückseite unter den Kästchenstichen.

Das Muster ist für mittelgroße Flächen geeignet.

Ich habe es in eine Tulpe gestickt (hier 16-fädiges Leinen und Vierfachstickgarn Nr. 25).

Passend finde ich dazu die Kombination mit dem Mückenstich, hier zu sehen in der Tulpenspitze.

Abwandlungen kann man erzielen, wenn man feineres Garn verwendet oder – wie hier – ein bis zwei weitere Fäden auszieht.

Flächenfüllmuster Nr. 567

Kategorie: einfaches Durchbruchmuster
verwendetes Leinen: 13.5-fädig
verwendetes Garn: Vierfachstickgarn Nr. 20
angewandte Stiche: Kästchenstiche
vertikale Mitte: Vierer-Fadenbündel

Das im Folgenden gezeigte Muster ist nur eine Arbeitsprobe. Eingebettet in eine Motivfläche findet man das Muster am Ende dieses Beitrages.

Es ist sinnvoll, mit dem Fadenauszug in der Mitte zu beginnen. Neben 4 stehen bleibenden Fäden wird auf jeder Seite ein Fadenpaar ausgezogen.

Von dort werden abwechseln jeweils 4 Fäden stehen gelassen und 2 Fäden ausgezogen.

Man dreht die Arbeit um 90° und wendet sie zur Rückseite.
Über die vier mittleren Fäden werden von der Rückseite aus und von links nach rechts Kästchenstiche gestickt, die jeweils 4 Gewebefäden bündeln.

Die Kästchenstiche der benachbarten Reihen werden jeweils um 2 Gewebefäden versetzt gearbeitet.

Dadurch erhalten die verbliebenen Gewebefäden der Fadenrinnen eine zickzackförmige Ausrichtung.

Von der Vorderseite aus betrachtet bietet sich folgendes Bild:

Das Vernähen erfolgt entweder unter den Randstichen oder unter den Kreuzen der Kästchenstiche.

Das Muster ist für mittelgroße Flächen geeignet.

Dieses Muster habe ich in der Borte eines Paradekissenbezuges von 1821 gefunden. Hier füllt es in Kombination mit Wickelstichstangen das Korbmotiv.

Ich habe es in eine Tulpe gestickt (hier 16-fädiges Leinen und Vierfachstickgarn Nr. 25).

Passend finde ich dazu die Kombination mit dem Muster, das entsteht, wenn man den Mückenstich von der Rückseite aus stickt, hier zu sehen in der Tulpenspitze.

Abwandlungen kann man erzielen, wenn man – wie hier Nr. 25 auf 13,5-fädigem Leinen – feineres Garn verwendet oder ein bis zwei weitere Fäden auszieht.

Flächenfüllmuster Nr. 562

Kategorie: einfaches Durchbruchmuster
verwendetes Leinen: 13.5-fädig
verwendetes Garn: Vierfachstickgarn Nr. 20
angewandte Stiche: Wickelstiche
horizontale Mitte: vierfache Fadenrinne

Das Blütenmotiv mit den durchbrochenen Blättern entstammt der Schwälmer Paradekissenborte (B).

Wie man der Detailaufnahme der Originalstickerei entnehmen kann, handelt es sich um eine Art versetzter Erbslöcher, die aber keine Kästchenstiche als Grundlage haben, sondern ausschließlich aus Wickelstichen bestehen.

Ich habe unterschiedliche Möglichkeiten ausprobiert und empfehle, das Muster zu sticken wie im Folgenden beschrieben.

Man zieht in einer Richtung abwechseln jeweils 4 Gewebefäden aus und lässt 2 dazwischen stehen. Das Muster baut sich von rechts unten nach links oben auf.

Dazu umwickelt man 6 Gewebefäden der untersten breiten Fadenrinne 3-4 mal.

*Dann führt man die Nadel diagonal nach links oben unter dem horizontalen Gewebefadenpaar zur nächsten Fadenrinne und sticht zwischen dem dritten und vierten Faden des Bündels aus.

Man wiederholt den Stich einmal,

kehrt zum Ausgangspunkt zurück und führt die Nadel unter dem umwickelten Fadenbündel durch zur gegenüberliegenden Seite.

Von dort aus führt man die Nadel über das horizontale Fadenpaar diagonal nach rechts oben, sticht erneut zwischen dem dritten und vierten Faden des Bündels ein und am Ausgangspunkt wieder aus.

Erneut führt man die Nadel über das horizontale Fadenpaar diagonal nach rechts oben, sticht wiederum zwischen dem dritten und vierten Faden des Bündels ein und sticht diesmal 6 Gewebefäden nach links wieder aus.

Die auf der Nadel liegenden 6 Gewebefäden bilden das nächste Bündel. Bevor man es aber umwickeln kann, muss man die Anbindung der linken 3 Fäden an das darunter liegende Fadenpaar vornehmen.
Dazu führt man die Nadel über das Fadenpaar diagonal nach rechts unten, sticht neben dem gewickelten Bündel ein und am Ausgangspunkt wieder aus.

Auch diesen Stich wiederholt man einmal,

um dann die beider 3er Fadenbündel zusammenzuwickeln.*

Man wiederholt die Arbeitsschritte (*).

Am oberen Rand angekommen, dreht an die Arbeit um 180° und stickt die nächste Reihe neben die erste.

An den Stellen, an denen die Fadenpaare bereits umwickelt sind, kann man diese Schritte weglassen.
Manche Reihen – nicht alle – rücken dicht an die vorhergehende. Man kann die Bündel mit der Nadelspitze etwas verschieben, um gleichmäßige Abstände zu erzielen.

Auf diese Weise entsteht ein luftiges Muster, dass sich für die Füllung nicht allzu großer Flächen eignet.